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Zur Begrüßung des Jahres 2022

von Rainer Schnurre


Motto: „Wir brauchen auch in den großen Weltfragen eine welthistorische Besinnung heute und wir müssen uns klar sein, dass das große Unglück im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts die große Aufforderung, die gewaltige Prüfung an die Menschheit ist zu dieser Besinnung. Es muss aus den Untergründen der Seele heraufsteigen eine ganz andere Behandlung des Lebens. Die großen Fragen des Lebens, die über Geburt und Tod hinaus liegen, müssen in das gewöhnliche Menschenleben hineinspielen. Die Fragen der Gegenwart müssen von dem Lichte der Ewigkeit beleuchtet werden, sonst werden die Menschen von Kongress zu Kongress eilen und immer mehr und mehr ins Unglück hinein sinken.“1


*

Wir wollen also den Blick weiten,

so tönt es aus den Weltenweiten an unser Herz. Wie erstarrt starrt die irdische Menschheit auf ein Krankheitsgeschehen, das sie nicht versteht. Der Verstand stößt an seine Grenzen. Der Intellektualismus kann es nicht mehr fassen. - Das aber kann nicht sein. Das darf nicht sein. Das darf man nicht einmal denken. So erstarrt das intellektuelle Denken, in panischer Suche, nach physischen Antworten. Kennt dieses Denken ja nur das Physische. Aber gerade dort findet man nicht, was man sucht. Es ist die offensichtlich falsche Blickrichtung. - Aber sprich heute einem materialistischen Denken nur nicht von «falscher» Richtung. Es wird sofort polemisch oder zynisch oder wütend und herabwürdigend. - Man schreit nach Toleranz, bezieht diese Forderung nur nicht auf sich selbst.


Was heißt es: den Blick zu weiten?

Das, was aus allen Medien dröhnt, ist nicht das Wesentliche. Das Wesentliche ist viel zu zart, als dass es hervorgezerrt werden könnte, um jedem grobklotzig vor Augen gestellt zu werden. - Dieser Platz ist ja längst besetzt, okkupiert vom weltweiten Krankheitsgeschehen, dass nichts anderes mehr zulässt. Und dadurch alles zum Erstarren bringt.


Wie kann der Mensch aber seine Seele so weiten, dass er trotzdem noch selbstständig zu eigenen Einsichten kommen kann? Wie kann sich der Mensch selbst aus der Erstarrung befreien? - Kann ich meine eigene Erstarrung erkennen? - Erfasse ich mein eigenes Gefangensein im System? - Erkenne ich es, so sollte ich es als Tatsache bejahen. - Solange ich die Gefangenschaft aber leugne und mich stattdessen für «frei» behaupte, verfestige ich die eigene Erstarrung. - Die Menschheit befindet sich in einer außerordentlichen Schockstarre, also auch ich. -


Was aber ist dann das Wesentliche?

Wenn das Geschrei aller Medien und der meisten persönlichen Gespräche sich nur noch um das eine Thema drehen, das jedoch letztlich nicht verstanden wird, so werden, wer weiterhin in aller Ruhe zuhört, meist nur noch endlose Vermutungen und unbewiesene Behauptungen aufgestellt. - Es fehlt auf allen Seiten der gehörige Abstand. Das ruhige Abstand-nehmen-Können ist aber eine erste Voraussetzung, um sich einem Wesentlichen überhaupt nähern zu können.


Dazu gehört auch das Abstand-nehmen-Können von allen Polarisierungsversuchen, sowie das

Abstand-nehmen-Können von allen Feindbildern. In jeder Sichtweise, auch in der schrägsten, wird man etwas Berechtigtes finden können, zumindest für den, der wirklich verstehen will.


Ohne innere Ruhe und ohne Geduld, frei von allem emotionalen Geschwätz, auch frei von aller intellektualistisch kalten Rechthaberei, aber ebenso frei von aller hochmütigen Besserwisserei, kommen wir nicht auf die Spur des Wesentlichen.


Was sucht die irdische Menschheit zur Zeit?

Suchen kann sie nur, was sie verloren hat. Das gibt die Richtung. Was haben wir denn verloren Die Menschheit hat den Menschen verloren. Der Mensch weiß nicht mehr was ein Mensch ist. Er weiß nicht mehr, wer er selbst ist. - Das ist ein gefährlicher Augenblick für die gesamte Menschheit. Ich könnte auch sagen: Wir befinden uns in einer Menschheitsprüfung. Ist das wirklich so? Dann ist zur Zeit auch jeder einzelne Mensch auf der Erde vor diese Prüfung gestellt. - Es ist zu hoffen, dass wir, die gesamte Menschheit, diese Prüfung gemeinsam meistern werden.


Das augenblickliche weltweite Krankheitsgeschehen

bewirkt eine Art menschheitlicher Mysterien-Einweihung: Der moderne «Vergessenheitstrunk» und die furchterregende Schockstarre. Beides ist notwendig, damit geistiges Erwachen einfließen kann.


Wozu soll der heutige Mensch erwachen?

Zu sich selbst. Und das gelingt ihm durch die bewusste Hinwendung zum anderen Menschen. - Das ist sein soziales Erwachen. - Dazu ist aber zumindest notwendig, dass er weiß, dass der Mensch sich als Individualität erlebt; erlebt – nicht nur denkt. Insofern sich der Mensch bewusst als menschliche Individualität erlebt, weiß er zugleich, dass auch sein Mitmensch eine Individualität ist.


Individualität kann der Mensch niemals in nur einem Erdenleben werden. Damit ist die menschliche Individualität schon recht deutlich unterschieden von der Persönlichkeit, mit ihrem Personalausweis und dem Passfoto, mit dem diesmaligen Namen und seinem diesmaligen Geburtsort.


Alles das fehlt der menschlichen Individualität. Ihr unverwechselbarer Reichtum ist angedeutet in den unterschiedlichen Fähigkeiten und Unfähigkeiten des Menschen.


Es ist ein furchtbarer Kampf entbrannt,

in dem jetzigen weltweiten Krankheitsgeschehen. Dabei geht es um die menschliche Individualität. Wird die Menschheit der menschlichen Individualität zum Durchbruch verhelfen oder wird sie sich der kollektiven Erstarrung und dem allgemeinen Vergessen ergeben, um alles dem anonymen Staat zu übergeben? -


Ich bleibe zuversichtlich.

Obwohl äußerlich zur Zeit alles dagegen zu sprechen scheint. Es kann der Menschen als ein Freiheitswesen, als ein soziales Wessen, als ein liebefähiges Wesen, als der Erstgeborene erkannt und gewürdigt werden. Erscheint seine menschheitliche Würde doch erst in seiner menschlichen Individualität. - In diesem Sinne begrüße ich das Jahr 2022 und mit ihm die Neugeburt des erwachenden Bewusstseins für die menschheitlichen Individualität, als den eigentlichen Souverän.


*


„Es müssen die Blicke, die heute das soziale Elend schauen, wenn man den richtigen Gesichtspunkt hat, dahin führen, dass die Menschen «mea culpa»2 sagen, dass jeder Mensch «mea culpa» sagt. Denn dass der einzelne Mensch als Individualität sich fühlt, schließt nicht das aus, dass er auch mit der ganzen Menschheit sich verbunden fühlt. Man hat in der Menschheitsentwickelung nicht das Recht, sich als Individualität zu fühlen, wenn man sich nicht zu gleicher Zeit als Angehöriger der ganzen Menschheit fühlt.“ 3



1 Rudolf Steiner, GA 210, „Alte und neue Einweihungsmethoden“, 4. Vortrag, 19. Januar 1922, S.68/69.

2 Mea culpa = meine Schuld

3 Rudolf Steiner, GA 305, „Die geistig-seelischen Grundkräfte der Erziehungskunst – Spirituelle Werte in Erziehung und sozialem Leben“, Vortrag in Oxford, vom 29. August 1922.


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